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Die Sehnsucht nach Fremdheit

Manchmal wünscht man sich, dass einem die Geschichte fremder wäre, als sie ist. Das gilt vor allem für die Schrecken und Gräueltaten in einem Konzentrationslager. Für die Schüler/innen der B11 und FB13W, deren Eltern schon in unserer heutigen Demokratie geboren sind und für die Freiheit im Alltag selbstverständlich ist, könnten die Exzesse des Nationalsozialismus kaum fremder sein. Und dennoch entdecken wir bei einem Rundgang durch die Gedenkstätte überall auch Menschliches und damit Vertrautes. Doch gerade diese Entdeckungen öffnen die Augen für die Schrecken und Ungerechtigkeiten, die Flossenbürg seinen Besuchern wieder ins Gedächtnis rufen will:

Denn alltägliche Orte wie ein Bad werden im Kontext eines Konzentrationslagers pervertiert. In Flossenbürg verliert das Bad die Funktionalität, die ihm die Menschheit sonst zuschreibt. Es ist kein Ort mehr, der Privatheit und Schutz bietet, sondern ein Ort der Erniedrigung und Qual mit eiskaltem oder kochendem Wasser. Das Häftlingsbad ist kein Ort mehr, an dem Menschen sich reinigen und sich so nach einem abgekämpften Tag auch ihre körperliche Würde zurückzuerobern, sondern ein Ort, an dem die natürliche Nacktheit, künstlich gesteigert durch das brutale und blutige Entfernen der Haartracht, als Folter und Entindividualisierung missbraucht wird, um den Menschen mit ihrer Individualität auch ihre Würde zu nehmen. Vittore Bocchetta, ein Überlebender des KZs Flossenbürg sagt zu diesem Raum „Hier haben wir nicht nur die Kleidung verloren, sondern unsere Seele.“
Aber das ungute Gefühl, dass einem eben doch nicht alles fremd ist, betrifft nicht nur die Orte, die die Schüler/innen am 9.1.2019 zusammen mit ihren Lehrkräften J. Hildebrandt, V. Bauer und A. Kostial durchschreiten.

Der Stolz auf den Beruf wird zu einem befremdenden Akt, wenn man sieht, wie damals die SS-Soldaten in der Freizeit mit genau den Uniformen junge Damen beeindrucken wollen, die sie auch tragen, wenn sie im Lager Menschen brutal misshandeln, töten und perfide gegeneinander ausspielen.

Die Ankunft in der neuen Heimat wird schal, wenn man begreift, wie z.B. die ausgehungerten Sudetendeutschen nach langer gefährlicher und aufreibender Flucht unwissentlich Wohnungen beziehen sollen, deren Fenster einen Blick auf das erst wenige Jahre vorher aufgelöste KZ offenbaren. Gleichzeitig wird klar, dass es nicht nur hier, ein zutiefst menschliches Verlangen (hier nach Sicherheit und Neuanfang) ist, dass es einem auch später erschwert, den Blick für die tatsächlichen Geschehnisse frei zu haben.

Immer wieder gelingt es Andreas Kostial, der die Klassen durch die Gedenkstätte führt, solche intellektuellen Widersprüche in den Köpfen der Schüler/innen entstehen zu lassen. Man will sich von den Profiteuren des Lagers, die auch um Flossenbürg herum zu suchen sind, distanzieren. Man erkennt die wirtschaftlichen Vorteile, die mit dem Leid und dem Tod anderer erkauft werden. Und doch kann man sekundenweise in den Beweggründen der Täter auch bekannte menschliche Regungen erkennen, wie Angst, den Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung, den Versuch, die eigenen Lieben zu schützen. Doch dieses Wiedererkennen schafft keine Nähe, denn die Unmenschlichkeit der Ereignisse lässt sich durch nichts entschuldigen. Es schafft keine Nähe, sondern Angst. Angst davor, wozu einen alltägliche und menschliche Tendenzen treiben könnten, in einer anderen Zeit, in anderen Umständen. Man wünscht sich, dass diese Zeiten uns – trotz aller bedenklicher Tendenzen der Gegenwart – auf immer fremd bleiben mögen.

Text und Fotos: Verena Bauer
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